
Sarah Nguyen, Resort Kultur und Integration
Während mein Kollege Robert nächste Woche den salzigen Hauch der Elbe einatmet, stehe ich hier zwischen den Weinbergen und frage mich: Was macht eine Stadt wirklich kreativ? Vielleicht ist es weniger die Infrastruktur als vielmehr das unsichtbare Gewebe zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Denkweisen und Traditionen.
Die 103,7 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung der Kreativwirtschaft, die Robert in seinem Bericht erwähnt, erzählen nur die halbe Geschichte. Denn hinter diesen beeindruckenden Zahlen verbergen sich unzählige Biografien, die kulturelle Grenzen überschreiten und gerade dadurch Innovation schaffen.
Das verborgene Potenzial der Zwischenräume
Als ich gestern durch die „Interkulturelle Kunstwerkstatt“ in Heilbronn-Sontheim ging, beobachtete ich eine Szene, die mehr über kreative Wirtschaft aussagt als jede PowerPoint-Präsentation: Eine 67-jährige türkische Textilkünstlerin zeigte einer 22-jährigen Mediendesign-Studentin traditionelle Webmuster. Zwei Stunden später hatten sie gemeinsam eine Idee für eine App entwickelt, die alte Handwerkstechniken in digitale Designprozesse integriert.
In diesem Moment wurde mir klar: Während Hamburg seine Kreativgesellschaft mit 60 Mitarbeitern feiert, übersehen wir in Heilbronn oft das kreative Kapital, das in unseren kulturellen Zwischenräumen schlummert. Die Stadt der „schwäbischen Bescheidenheit“ ist längst auch eine Stadt der syrischen Goldschmiede, türkischen Textilkünstlerinnen, italienischen Designer und russischen Programmiererinnen.
Kreativität braucht kulturelle Reibung
Die „produktive Irritation“, die Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda so treffend beschreibt, entsteht nicht im homogenen Raum. Sie gedeiht dort, wo unterschiedliche kulturelle Codes aufeinandertreffen, wo das Selbstverständliche einer Tradition auf die Neugier einer anderen trifft.
In der „Stadt.Kunst.Dialog“-Reihe, die ich im letzten Jahr kuratieren durfte, zeigte sich immer wieder: Die spannendsten Projekte entstanden dort, wo kulturelle Grenzen verschwammen. Wenn der syrische Kalligraf auf den schwäbischen Möbeldesigner trifft. Wenn die indische Programmiererin mit dem deutschen Komponisten zusammenarbeitet.
Diese interkulturellen Begegnungen sind keine netten Nebenschauplätze der Kreativwirtschaft – sie sind ihr Herzstück. Und Heilbronn hat hier einen unschätzbaren Vorteil: Unsere Stadt ist seit Jahrzehnten ein Schmelztiegel der Kulturen, lange bevor das Wort „Diversität“ in Wirtschaftskonzepten auftauchte.
Von leeren Ladenflächen zu interkulturellen Kreativzentren
Roberts Beschreibung der Hamburger „Frei_Fläche“-Initiative mit ihren 28.000 Quadratmetern umgenutzter Fläche lässt mich träumen: Was wäre, wenn wir in Heilbronns leerstehenden Ladenflächen nicht nur Co-Working-Spaces und hippe Cafés einrichten würden, sondern interkulturelle Kreativlabore?
Stellen wir uns vor: Im ehemaligen Kaufhaus in der Fleiner Straße entsteht ein „Global Crafts Hub“, wo traditionelles Handwerk aus allen Herkunftsländern unserer Stadtgesellschaft auf digitale Technologien trifft. Wo die Enkelin einer anatolischen Teppichweberin mit dem Sohn eines schwäbischen Schreiners und einer ukrainischen Programmiererin zusammenarbeitet.
Die wirtschaftlichen Potenziale wären enorm: Neue Produkte, die globale Märkte erschließen. Touristische Anziehungspunkte, die Heilbronn als Zentrum interkultureller Innovation positionieren. Startups, die aus der Verbindung von traditionellem Handwerk und digitaler Innovation entstehen.
Der Wein als Metapher
Erlaubt mir eine Metapher aus unserer Region: Der beste Wein entsteht nicht durch Monokultur, sondern durch das sorgfältige Zusammenspiel verschiedener Rebsorten, die sich ergänzen. Genau so verhält es sich mit kreativer Wirtschaft – sie braucht die Vielfalt der kulturellen Einflüsse, um ihr volles Potenzial zu entfalten.
Als ich kürzlich mit Winzern aus der Region über ihre neuen „Cross-Blend“-Experimente sprach, bei denen sie traditionelle heimische Rebsorten mit internationalen Varietäten kreuzen, dachte ich: Genau das brauchen wir in unserer Kreativwirtschaft – mutige kulturelle „Cross-Blends“, die das Beste aus verschiedenen Traditionen vereinen.
Vom Reden zum Handeln
Während Robert in Hamburg Inspirationen sammelt, möchte ich konkrete Schritte vorschlagen, wie wir Heilbronns interkulturelle Kreativwirtschaft stärken können:
-
Interkulturelle Kreativstipendien: Förderung von Projekten, die explizit kulturelle Grenzen überschreiten und traditionelles Handwerk mit digitaler Innovation verbinden.
-
Global Crafts Market: Ein regelmäßiger Markt, der traditionelles Handwerk aus allen Herkunftsländern unserer Stadtgesellschaft präsentiert und mit der lokalen Wirtschaft vernetzt.
-
Mehrsprachige Kreativberatung: Beratungsangebote für kreative Unternehmer*innen in den wichtigsten Sprachen unserer Stadtgesellschaft.
-
Interkulturelle Kreativräume: Umnutzung leerstehender Ladenflächen zu Werkstätten, in denen traditionelles Handwerk verschiedener Kulturen auf moderne Technologien trifft.
Die persönliche Dimension
Lasst mich zum Schluss persönlich werden: Als Tochter vietnamesischer Einwanderer, aufgewachsen zwischen zwei Kulturen, habe ich früh gelernt, dass die spannendsten Ideen in den Zwischenräumen entstehen. Meine dreijährige Tochter Mai-Linh wächst mit drei Sprachen auf und wird eines Tages zwischen kulturellen Kontexten wechseln können wie andere zwischen Räumen.
Diese Fähigkeit – das mühelose Navigieren zwischen kulturellen Codes – ist die vielleicht wertvollste Ressource für die Kreativwirtschaft der Zukunft. Und sie ist in Heilbronn reichlich vorhanden, in den Biografien tausender Menschen, die täglich kulturelle Grenzen überschreiten.
Während Robert also in Hamburg nach großen Konzepten sucht, lade ich euch ein, den Blick auf das zu richten, was direkt vor unserer Haustür liegt: das ungehobene kreative Potenzial einer Stadt, deren größter Schatz ihre kulturelle Vielfalt ist.
Heilbronn hat alles, was es braucht, um ein Zentrum interkultureller Kreativwirtschaft zu werden – wir müssen es nur endlich als Stärke begreifen und strategisch fördern. Denn wie beim Wein gilt auch hier: Die interessantesten Noten entstehen durch die Verbindung verschiedener Traditionen.
Sarah Nguyen ist Co-Ressortleiterin Kultur bei HEIMATNERD.74 und Gründerin der „Interkulturellen Kunstwerkstatt“ in Heilbronn-Sontheim. Sie kuratiert die Reihe „Stadt.Kunst.Dialog“ und moderiert den Podcast „KulturCrossover“.