Die Quantensprünge der Medizin: Wie KI die Medikamentenentwicklung revolutioniert

Dr. Elena Popov, Resort Wissenschaft und Bildung

In meinem Labor an der Universität Moskau arbeiteten wir einst monatelang an Berechnungen, die heute ein KI-System in Sekunden erledigt. Was wir damals mit Quantenphysik zu verstehen versuchten – die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen Molekülen – wird nun durch künstliche Intelligenz in einer Geschwindigkeit entschlüsselt, die vor einem Jahrzehnt noch undenkbar schien.

Stellen Sie sich vor, Sie suchen eine bestimmte Person in einer Stadt mit acht Milliarden Einwohnern – ohne Adresse, nur mit vagen Hinweisen auf ihr Aussehen. So ähnlich funktionierte traditionelle Medikamentenentwicklung. Wissenschaftler durchsuchten einen nahezu unendlichen chemischen Raum nach Molekülen, die präzise an bestimmte Proteine im Körper andocken können. Ein Prozess, der durchschnittlich zehn Jahre dauert und Milliarden verschlingt.

Doch nun betritt ein neuer Spieler die Bühne: Künstliche Intelligenz, die diesen Suchprozess fundamental verändert.

Der Paradigmenwechsel

Am Icahn School of Medicine at Mount Sinai wurde kürzlich das „AI Small Molecule Drug Discovery Center“ eröffnet – ein Leuchtturmprojekt, das zeigt, wohin die Reise geht. Hier wird KI nicht als bloßes Werkzeug, sondern als integraler Bestandteil des Entdeckungsprozesses eingesetzt.

„Wir definieren die Zukunft medizinischer Innovation neu,“ erklärt Dr. Avner Schlessinger, der das Zentrum leitet. „Durch die Integration künstlicher Intelligenz mit modernster Chemie und Biologie können wir die Medikamentenentwicklung dramatisch beschleunigen.“

Was bedeutet das konkret? In meinem Podcast „Quantum & Co.“ vergleiche ich KI-gestützte Medikamentenentwicklung oft mit dem Unterschied zwischen einer Landkarte und einem GPS-Navigationssystem. Traditionelle Methoden geben Wissenschaftlern eine Karte des chemischen Raums – KI hingegen berechnet kontinuierlich den optimalen Weg zum Ziel und passt die Route bei neuen Erkenntnissen sofort an.

Die drei Dimensionen der Revolution

Das neue Zentrum konzentriert sich auf drei Kernbereiche, die jeweils eigene wissenschaftliche Durchbrüche darstellen:

1. Generative KI für Moleküldesign

Hier werden völlig neue Moleküle erschaffen – nicht durch zufälliges Ausprobieren, sondern durch gezielte KI-Vorhersagen. Die Systeme lernen aus Millionen bekannter Verbindungen und können dann eigenständig neue Strukturen vorschlagen, die bestimmte gewünschte Eigenschaften aufweisen.

Denken Sie an ein KI-System, das nicht nur Schach spielt, sondern völlig neue Spielfiguren mit einzigartigen Bewegungsmustern erfindet, die das Spiel revolutionieren könnten. So ähnlich arbeitet generative KI in der Medikamentenentwicklung.

2. Molekulare Optimierung

Existierende Verbindungen werden durch KI-gestützte Analysen verfeinert. Das System schlägt präzise Modifikationen vor, die Wirksamkeit steigern und Nebenwirkungen reduzieren können.

In meinem Science Lab demonstriere ich diesen Prozess oft mit einem Schlüssel-Schloss-Modell: Die KI analysiert, welche minimalen Änderungen am „Schlüssel“ (Medikament) vorgenommen werden müssen, damit er perfekt ins „Schloss“ (Zielprotein) passt.

3. Vorhersage von Wirkstoff-Ziel-Interaktionen

Hier geht es um das Repurposing – die Umwidmung bekannter Medikamente für neue Anwendungsgebiete. KI kann vorhersagen, ob ein Medikament, das ursprünglich für Krankheit A entwickelt wurde, möglicherweise auch bei Krankheit B wirksam sein könnte.

„Die kombinatorischen Möglichkeiten im optimalen Wirkstoffdesign führen zu hohen Kosten, langen Zeitplänen und niedrigen Erfolgsraten. KI navigiert effizient durch diese komplexe Landschaft und identifiziert die vielversprechendsten Kandidaten – eine Leistung, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war,“ erklärt Dr. Ming-Ming Zhou vom Mount Sinai.

Der quantenphysikalische Vergleich

Als Quantenphysikerin sehe ich faszinierende Parallelen zwischen meinem ursprünglichen Forschungsgebiet und der KI-gestützten Medikamentenentwicklung. In der Quantenphysik arbeiten wir mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen und Zustandsräumen – Konzepte, die auch in modernen KI-Systemen fundamentale Bedeutung haben.

Ein Quantensystem kann sich gleichzeitig in mehreren Zuständen befinden, bis eine Messung durchgeführt wird. Ähnlich evaluiert KI simultan Millionen potentieller Moleküle, bis das System einen vielversprechenden Kandidaten „auswählt“. Diese konzeptionelle Verwandtschaft ist kein Zufall – beide Felder operieren an den Grenzen dessen, was mathematisch modellierbar ist.

Die menschliche Komponente

Bei all der Technologiebegeisterung dürfen wir eines nicht vergessen: KI ersetzt nicht die menschliche Kreativität und Intuition – sie verstärkt sie.

„KI verändert grundlegend, wie wir Krankheiten auf molekularer Ebene verstehen und angreifen,“ sagt Dr. Alexander Charney vom Mount Sinai. „Durch die Integration künstlicher Intelligenz mit genetischen Erkenntnissen können wir über konventionelle Medikamentenentwicklung hinausgehen und Präzisionstherapeutika entwickeln, die auf die zugrundeliegende Biologie komplexer Erkrankungen zugeschnitten sind.“

In meinen „Science Made Simple“-Videos betone ich stets: Die wahre Magie entsteht an der Schnittstelle zwischen menschlicher Kreativität und maschineller Rechenleistung. Wenn ein erfahrener Medizinchemiker mit 30 Jahren Erfahrung und eine fortschrittliche KI zusammenarbeiten, entsteht etwas Größeres als die Summe seiner Teile.

Ethische Dimensionen und gesellschaftliche Implikationen

Die Beschleunigung der Medikamentenentwicklung wirft wichtige ethische Fragen auf. Werden KI-entwickelte Medikamente allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein? Wie verhindern wir, dass die Technologie bestehende Ungleichheiten verstärkt?

Als Mitglied wissenschaftlicher Beratungsgremien setze ich mich dafür ein, dass diese Fragen nicht nachträglich, sondern von Anfang an in die Entwicklung einbezogen werden. Innovation und Ethik dürfen keine getrennten Diskurse sein – sie müssen Hand in Hand gehen.

Besonders wichtig: Die Trainingsdaten für KI-Systeme müssen diverse Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Andernfalls riskieren wir, dass die entwickelten Medikamente für bestimmte genetische Profile besser funktionieren als für andere.

Der Blick in die Zukunft

Das Mount Sinai plant, innerhalb der nächsten zwei Jahre signifikante Durchbrüche im KI-gestützten Wirkstoffdesign zu erzielen. Dr. Eric Nestler, wissenschaftlicher Leiter des Mount Sinai Health Systems, betont: „Durch die Nutzung der Kraft der KI transformieren wir die Art und Weise, wie neue Medikamente entdeckt und entwickelt werden, und bringen Hoffnung zu Patienten, die schneller als je zuvor bahnbrechende Behandlungen benötigen.“

In meinem eigenen virtuellen Science Lab experimentieren wir bereits mit ähnlichen Ansätzen. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Feld entwickelt, ist atemberaubend – was heute State-of-the-Art ist, könnte in sechs Monaten bereits überholt sein.

Vom Labor zum Patienten

Letztendlich geht es nicht um Algorithmen und Rechenleistung, sondern um Menschen. Um den Krebspatienten, der auf eine wirksamere, nebenwirkungsärmere Therapie hofft. Um das Kind mit einer seltenen genetischen Erkrankung, für die es bisher keine Behandlung gibt. Um den Alzheimer-Patienten, dessen Gedächtnisverlust durch ein präzise entwickeltes Molekül verlangsamt werden könnte.

„Wir stehen am Beginn einer neuen Ära der Medikamentenentwicklung,“ sagt Dr. Schlessinger. „Durch die Kombination von KI, Computerchemie und biomedizinischer Forschung machen wir die Medikamentenentwicklung nicht nur schneller – wir machen sie intelligenter, effizienter und besser auf die biologische Komplexität menschlicher Erkrankungen zugeschnitten.“

Als ich vor Jahren am CERN arbeitete, untersuchten wir die fundamentalsten Bausteine des Universums. Heute erleben wir, wie ähnliche mathematische Prinzipien und Computermodelle eingesetzt werden, um die fundamentalen Bausteine des Lebens zu verstehen und zu beeinflussen. Der Kreis schließt sich auf wundersame Weise.

Die KI-Revolution in der Medikamentenentwicklung ist kein fernes Zukunftsszenario – sie findet jetzt statt, in Laboren wie dem Mount Sinai AI Small Molecule Drug Discovery Center. Und sie verspricht nichts weniger als eine Neuerfindung der Art und Weise, wie wir Krankheiten behandeln.

Für mich als Wissenschaftlerin und Kommunikatorin ist es ein Privileg, diese Revolution zu beobachten und zu erklären. Denn letztendlich geht es nicht nur darum, was Technologie kann – sondern darum, was sie für die Menschheit bedeutet.


Dr. Elena Popov ist Co-Ressortleiterin Wissenschaft & Innovation bei HEILBRONN.BETA. Mit ihrem Hintergrund in Quantenphysik und als Gründerin der „Girls in Science“ Initiative macht sie komplexe wissenschaftliche Themen durch ihre YouTube-Serie „Science Made Simple“ und ihren Podcast „Quantum & Co.“ einem breiten Publikum zugänglich.

Quellen

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