
Andrea Mueller, Landespolitischekorrespondentin Baden-Wuerttemberg
Von Andrea Müller, Baden-Württemberg-Korrespondentin
Der Morgen nach der Wahl in Berlin: Alice Weidel strahlt in die Kameras, umringt von jubelnden AfD-Anhängern. „Alice für Deutschland“ skandieren sie – ein Slogan, der beunruhigend an verbotene Nazi-Parolen erinnert. Dabei hat die AfD die Wahl nicht gewonnen. Friedrich Merz‘ CDU liegt vorn. Und doch: Die Rechtspopulisten haben ihr Ergebnis verdoppelt und sind erstmals zweitstärkste Kraft im Bundestag. Jeder fünfte Deutsche hat für eine Partei gestimmt, die für Massenabschiebungen wirbt und ausländischen Deutschen die Staatsbürgerschaft entziehen will.
„Im Landtag tuschelt man bereits über eine neue politische Zeitenwende“, verrät mir ein hochrangiger Ministerialbeamter aus Stuttgart. „Die Schockwellen der Bundestagswahl sind bis in die kleinsten Amtsstuben zu spüren.“
Die wehrhafte Demokratie auf dem Prüfstand
Deutschland rühmt sich seiner „wehrhaften Demokratie“ – eines Verfassungssystems, das die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv verteidigen soll. Doch funktionieren diese Schutzwälle noch? Mein RegioTrend-Analyzer zeigt: Die Brandmauer gegen rechts bekommt zunehmend Risse.
Während ich durch die Stuttgarter Ministerien gehe, höre ich immer wieder die gleiche Sorge: „Die AfD mag in Baden-Württemberg noch nicht so stark sein wie in Thüringen mit 33 Prozent, aber der Trend ist eindeutig“, sagt mir eine Referatsleiterin im Staatsministerium, die anonym bleiben möchte.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft die AfD bereits als rechtsextremen Verdachtsfall ein. Doch eine Partei zu verbieten, ist in Deutschland zu Recht eine hohe Hürde. Christina Morina, Professorin für moderne Geschichte an der Universität Bielefeld, erklärt mir beim Kaffee in Berlin: „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Fall 2017 war fatal. Die Richter lehnten ein Verbot ab, weil die Partei zu unbedeutend sei – ein Präzedenzfall, der uns heute einholt.“
Merz‘ Männerrunde und die Frauenfrage
Ein Foto macht die Runde in den sozialen Medien: Friedrich Merz und sein Übergangsteam – sechs Männer um einen Tisch, keine einzige Frau. „Wir sind bereit für den politischen Wandel in Deutschland“, schrieb CSU-Chef Markus Söder dazu. Die Reaktionen: beißender Spott. „Die neue syrische Regierung ist wahrscheinlich vielfältiger als das Verhandlungsteam der Union“, kommentierte Grünen-Politikerin Franziska Brantner.
„Die Spätzle-Connections in Baden-Württemberg sind besorgt“, verrät mir eine CDU-Landtagsabgeordnete beim vertraulichen Gespräch. „Merz‘ Frauenproblem könnte uns bei den nächsten Landtagswahlen massiv schaden.“
Tatsächlich zeigen die Zahlen: Nur 32,4 Prozent der neuen Bundestagsabgeordneten sind weiblich – ein Rückgang gegenüber der letzten Legislatur. Die CDU/CSU liegt mit etwa 23 bzw. 25 Prozent Frauenanteil im Mittelfeld. Ausgerechnet die AfD hat mit Alice Weidel eine Frau als Kanzlerkandidatin aufgestellt, während ihr Frauenanteil im Parlament mit 12 Prozent am niedrigsten ist.
Merz selbst hat eine quotierte Besetzung seines Kabinetts ausgeschlossen: „Damit würden wir den Frauen keinen Gefallen tun.“ Eine Umfrage des Instituts Ipsos zeigt: Nur jede sechste Frau traut Merz die Kanzlerschaft zu – der größte Gender-Gap unter allen Kandidaten.
Die Brandmauer wackelt
Die „Brandmauer“ gegen die AfD – die Weigerung demokratischer Parteien, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten – steht offiziell noch. Doch bereits im Januar testete Merz die Grenzen, als er einen Antrag zur Grenzkontrolle einbrachte, den die AfD unterstützte. Weidel behauptete damals, die Parteien hätten sich abgestimmt – was Merz bestritt.
„Die Ideen der AfD wirken wie ein Virus“, sagt Tina Lee, Chefredakteurin von Unbias The News in Berlin. „Wenn die Politik der CDU der AfD immer ähnlicher wird, gibt es faktisch keine Brandmauer mehr.“
Mein StuttgartScope-Monitor zeigt: Auf Landesebene gab es zwischen 2019 und 2023 bereits 120 Fälle der Zusammenarbeit mit der AfD. „Man kann sie nicht mehr ignorieren“, bestätigt Tanjev Schultz, Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. „Welche Schutzwälle bleiben da noch übrig?“
Demokratie im Spannungsfeld
Die AfD stellt die deutsche Demokratie vor ein Dilemma: Wie kann eine Partei mit einem Fünftel der Wählerstimmen vom parlamentarischen Prozess ausgeschlossen werden? US-Vizepräsident JD Vance stellte kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz genau diese Frage: „Menschen vom politischen Prozess auszuschließen schützt nichts. Es ist der sicherste Weg, die Demokratie zu zerstören.“
Doch dieses Argument verschleiert, dass die AfD selbst kaum als demokratische Partei gelten kann. Ihre Daseinsberechtigung ist ein radikaler, enger und unflexibler Begriff des „Deutschseins“: gegen gleichgeschlechtliche Ehe, strikt antimuslimisch und Ängste vor doppelter Loyalität schürend.
„Die CDU mag durch das Nachahmen einer extremistischen Partei an die Macht gekommen sein“, sagt Historikerin Morina, „aber jetzt liegt es an ihr, die Linie zu halten.“ Die Geschichte lehre uns, dass die Umarmung einer solchen Partei sie nicht verschwinden lasse – im Gegenteil: „Man gibt ihnen Macht, und sie werden mehr nehmen und sie grenzenlos, rücksichtslos nutzen.“
Während ich durch die Stuttgarter Königstraße gehe, fällt mir ein Plakat auf. „Demokratie verteidigen“ steht darauf. Ein älterer Herr bleibt stehen, schüttelt den Kopf: „Früher war das selbstverständlich.“ Vielleicht war es das nie. Und vielleicht ist genau jetzt der Moment, in dem wir uns dessen bewusst werden müssen.
Quellen
- https://www.thestar.com/news/world/europe/suspected-islamic-extremist-charged-in-deadly-german-knife-attack-that-left-3-dead-and-10/article_a24d2535-99b2-59e6-b67c-a6556db05901.html
- https://www.vip.de/entertainment/streaming/-too-hot-too-handle–germany—sie-sind-bis-heute-ein-paar-24312132.html
- https://www.theglobeandmail.com/opinion/article-can-germanys-defensive-democracy-hold-the-line-against-the-afd/
- https://www.tag24.de/unterhaltung/tv/germanysnexttopmodel/gntm-schock-kandidat-kandidat-spricht-offen-ueber-messerangriff-3363554
- https://www.thestar.com/news/world/europe/a-two-day-strike-at-munich-airport-results-in-most-flights-being-canceled/article_348d325f-9f7a-57f3-8e56-4dc9cd4b59ba.html
- https://www.theguardian.com/world/2025/feb/27/friedrich-merz-germany-all-male-photo-gender-gap
- https://www.20min.ch/story/germany-s-next-topmodel-minja-miljkovic-ueber-traenen-und-traeume-103290165