
Miroslav Kovač, Lokales und Innovation
Es ist ein kalter Dienstagmorgen in Heilbronn, als ich Stefan Meier in seinem kleinen Büro am Stadtrand treffe. Der 54-jährige Buchhalter wirkt entspannt, während er mir einen Kaffee anbietet. Vor ihm auf dem Tisch liegt sein Laptop – geöffnet ist ein Fenster mit der markanten schwarz-weißen Oberfläche von ChatGPT. „Vor einem Jahr hätte ich dir gesagt, dass so etwas nichts für mich ist,“ schmunzelt er, während er seine Brille zurechtrückt. „Heute kann ich mir meinen Arbeitsalltag ohne diesen digitalen Kollegen kaum noch vorstellen.“
Stefans Geschichte ist keine Ausnahme mehr. Seit OpenAI im November 2022 ChatGPT der Öffentlichkeit zugänglich machte, hat sich die künstliche Intelligenz in unserem Alltag festgesetzt wie kaum eine Technologie zuvor. Was als experimentelles Sprachmodell begann, hat sich zu einem digitalen Begleiter entwickelt, der mittlerweile wöchentlich von über 400 Millionen Menschen weltweit genutzt wird – vom Schüler bis zur Rentnerin, vom Hobby-Dichter bis zum Unternehmensvorstand.
Eine Intelligenz wächst heran
„Dva koraka naprijed, jedan natrag,“ sage ich leise, als ich die Entwicklungsgeschichte von ChatGPT betrachte. Zwei Schritte vor, einer zurück – so lässt sich der Weg dieser Technologie beschreiben. Begonnen hat alles mit GPT-1, einem vergleichsweise simplen Modell, das 2018 veröffentlicht wurde und kaum Aufmerksamkeit außerhalb von Fachkreisen erregte. Doch mit jedem Entwicklungsschritt – GPT-2, GPT-3, GPT-3.5 und schließlich GPT-4 – wurden die Fähigkeiten beeindruckender.
Ende Februar 2025 – gerade erst vor wenigen Tagen – hat OpenAI mit GPT-4.5 sein bisher leistungsstärkstes Modell vorgestellt. Die Zahlen und Fakten sind beeindruckend: Präzisere Antworten, besseres Allgemeinwissen, intuitiveres Verständnis, weniger „Halluzinationen“ (also erfundene Informationen) und – vielleicht am faszinierendsten – eine gesteigerte emotionale Intelligenz. Das Modell erkennt nun Frustration in Anfragen und reagiert mit konstruktiven Lösungsvorschlägen statt bloßer Wortverarbeitung.
„Es ist, als hätte man einen digitalen Assistenten, der nicht nur zuhört, sondern auch fühlt,“ erklärt mir Dr. Lena Huber vom Heilbronner Institut für Künstliche Intelligenz, während wir durch das Campus-Gelände spazieren. Die Informatikerin beobachtet die Entwicklung von ChatGPT seit den Anfängen. „Was wir hier sehen, ist nicht einfach nur eine Verbesserung bestehender Technologie. Es ist ein qualitativer Sprung in Richtung einer Intelligenz, die menschliches Denken auf eine neue Art und Weise ergänzt.“
Der Mensch hinter der Maschine
Um zu verstehen, wie ChatGPT unsere Region verändert, muss man die Menschen kennenlernen, deren Leben sich durch diese Technologie gewandelt hat. Da ist Julia Schmidt, 27, Grafikdesignerin aus Neckarsulm, die mir in einem Café gegenübersitzt. Die junge Frau mit den bunten Haaren berichtet, wie sie ChatGPT nutzt, um Texte für ihre Designs zu erstellen. „Früher musste ich endlos recherchieren oder teure Texter beauftragen. Heute gebe ich ChatGPT einen Prompt, also eine Anweisung, und bekomme innerhalb von Sekunden brauchbare Entwürfe.“
Dann ist da Michael Bauer, Lehrer am Heilbronner Mönchsee-Gymnasium. Der 42-Jährige zeigt mir auf seinem Tablet, wie er ChatGPT in seinen Deutschunterricht integriert hat. „Die Schüler schreiben einen Aufsatz, lassen ihn von ChatGPT analysieren und bekommen sofort Feedback zu Struktur, Stil und Argumentationsführung. Das ersetzt nicht meine Bewertung, aber es gibt ihnen die Chance, selbständig zu lernen und zu verbessern.“
Während unseres Gesprächs zückt Michael sein Smartphone und zeigt mir eine WhatsApp-Gruppe seiner Kollegen. Der Name: „KI-Skeptiker 2023“. Er lacht: „Die Gruppe ist inzwischen umbenannt in ‚KI-Anwender 2025‘. So schnell kann’s gehen.“
Aber nicht alle Geschichten sind Erfolgsgeschichten. Ich treffe Karin Weber, 59, die bis vor kurzem als Übersetzerin arbeitete. „Die Aufträge werden weniger,“ sagt sie mit sorgenvollem Blick. „Viele Kunden nutzen mittlerweile ChatGPT für einfache Übersetzungen. Das mag nicht perfekt sein, aber es ist schnell und kostet fast nichts.“ Karin hat begonnen, sich auf literarische Übersetzungen zu spezialisieren – ein Bereich, in dem ChatGPT noch Schwächen zeigt.
Diese Ambivalenz zwischen Begeisterung und Besorgnis durchzieht viele meiner Gespräche in Heilbronn. In einer Stadt, die sich als Innovations- und Bildungsstandort positioniert, ist ChatGPT mehr als nur ein technisches Werkzeug – es ist Katalysator für gesellschaftlichen Wandel.
Die unsichtbare Transformation
An einem wolkenverhangenen Mittwochnachmittag besuche ich das Startup-Zentrum in der Heilbronner Innenstadt. Hier treffe ich auf Jonas Winkler, 31, Gründer von „AIlocal“, einem jungen Unternehmen, das lokalen Geschäften dabei hilft, KI-Technologien wie ChatGPT in ihren Alltag zu integrieren.
„Die meisten Menschen denken bei ChatGPT an spektakuläre Anwendungen – Gedichte schreiben, Programmcode erstellen, komplexe Probleme lösen,“ erklärt Jonas, während er mich durch die lichtdurchfluteten Büroräume führt. „Aber die wahre Revolution findet im Verborgenen statt. Es sind die tausend kleinen Aufgaben, die plötzlich automatisiert werden können: die Beantwortung von Standardanfragen im Kundendienst, die Erstellung von Produktbeschreibungen, die Analyse von Verkaufszahlen.“
Jonas zeigt mir auf seinem Computer, wie ein lokaler Blumenladen mithilfe von ChatGPT personalisierte Vorschläge für Blumenarrangements erstellt. „Der Kunde gibt ein paar Stichworte ein – Anlass, Farbwünsche, Budget – und bekommt sofort passende Vorschläge, die der Florist dann umsetzen kann. Das spart Zeit und schafft ein besseres Kundenerlebnis.“
Die Palette der Anwendungen scheint endlos: Vom Heilbronner Weinbauer, der ChatGPT für die Erstellung seiner Newsletter nutzt, bis zur lokalen Anwaltskanzlei, die damit juristische Recherchen beschleunigt – die künstliche Intelligenz hat sich in den Arbeitsalltag eingeschlichen, oft ohne großes Aufsehen.
„Wir stehen erst am Anfang,“ meint Jonas. „Mit jedem Update wird ChatGPT leistungsfähiger. Was heute noch menschliche Expertise erfordert, könnte morgen zur Routineaufgabe für KI werden.“
Die dunkle Seite der Intelligenz
„Jedno je sigurno – nichts ist ohne Risiko,“ sage ich zu Dr. Ahmed Malik, Datenschutzbeauftragter der Stadt Heilbronn, als wir uns in seinem Büro im Rathaus treffen. Der promovierte Informatiker mit dem akkurat gestutzten Bart nickt bedächtig.
„ChatGPT ist ein mächtiges Werkzeug, aber wir müssen uns der Risiken bewusst sein,“ erklärt er, während er auf seinem Bildschirm eine Präsentation öffnet. „Da ist zunächst der Datenschutz. Alles, was Nutzer mit ChatGPT besprechen, fließt potenziell in das Training zukünftiger Modelle ein. Persönliche oder sensible Informationen sollten daher nie ungefiltert eingegeben werden.“
Ein weiteres Problem: Fehlinformationen. Trotz aller Fortschritte kann ChatGPT noch immer „halluzinieren“ – also überzeugende, aber falsche Informationen liefern. „Die Technologie wird besser, aber sie ist nicht perfekt,“ warnt Dr. Malik. „Besonders kritisch wird es, wenn solche Halluzinationen in sensiblen Bereichen wie Medizin, Recht oder Finanzen auftreten.“
Ich denke an ein Experiment zurück, das ich vor unserem Treffen durchgeführt habe. Ich hatte ChatGPT gebeten, mir die Geschichte des Heilbronner Weinfests zu erzählen. Die Antwort klang überzeugend, enthielt jedoch mehrere faktische Fehler – darunter ein erfundenes Gründungsjahr und nicht existierende Traditionen.
„Das ist genau das Problem,“ seufzt Dr. Malik, als ich ihm davon berichte. „Die Antworten klingen so überzeugend, dass man den Fehler nicht bemerkt, wenn man nicht bereits über Fachwissen verfügt.“
Neben Datenschutz und Fehlinformationen gibt es weitere Bedenken: Urheberrechtsprobleme, da ChatGPT mit urheberrechtlich geschützten Texten trainiert wurde; ethische Fragen zur Verantwortung bei KI-generierten Inhalten; und nicht zuletzt die Sorge vor Arbeitsplatzverlusten durch Automatisierung.
„Wir müssen die Balance finden,“ meint Dr. Malik zum Abschluss unseres Gesprächs. „Zwischen Innovation und Vorsicht, zwischen Begeisterung und kritischem Denken.“
Lernende Gemeinschaft
An einem sonnigen Samstagnachmittag herrscht reges Treiben im Bildungszentrum der Volkshochschule Heilbronn. Etwa 25 Menschen jeden Alters haben sich zum Workshop „ChatGPT für Einsteiger“ eingefunden. Unter ihnen ist Maria Kowalski, 72, frühere Grundschullehrerin, die mit konzentriertem Blick auf ihrem Tablet tippt.
„Meine Enkel haben ständig von diesem Chat-Dingsda gesprochen,“ erzählt sie mir in der Kaffeepause. „Ich wollte verstehen, wovon sie reden. Außerdem,“ fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu, „will ich nicht zu den alten Menschen gehören, die den Anschluss verlieren.“
Der Workshop wird von Fabian Müller geleitet, einem 28-jährigen Medienpädagogen, der sich auf digitale Bildung spezialisiert hat. „Der Bedarf an solchen Einführungen ist enorm,“ erklärt er mir. „Wir haben mittlerweile Wartelisten für alle unsere KI-Kurse.“
Fabian sieht in Werkzeugen wie ChatGPT eine Chance für lebenslanges Lernen: „Früher war Wissen mühsam zu erwerben und schnell veraltet. Heute kann jeder in Sekunden auf aktuelle Informationen zugreifen und sie für seine Bedürfnisse nutzen. Das ist demokratisiertes Wissen.“
Während des Workshops beobachte ich, wie verschiedene Generationen mit der Technologie interagieren. Die jüngeren Teilnehmer sind experimentierfreudiger, testen Grenzen aus, fragen nach kreativen Anwendungen. Die älteren Teilnehmer sind systematischer, hinterfragen mehr, wollen verstehen, wie die „Black Box“ funktioniert.
„Gerade diese Mischung macht unsere Community so wertvoll,“ meint Fabian. „Wir lernen voneinander – Technikbegeisterung von den Jüngeren, kritisches Denken von den Älteren.“
Nach dem Workshop bleibt Maria noch, um mir ihre ersten ChatGPT-Erfahrungen zu zeigen. Sie hat dem System beigebracht, ihr Rezepte vorzuschlagen, die zu ihren Ernährungsbedürfnissen passen. „Als Diabetikerin ist das eine Erleichterung,“ strahlt sie. „Und nächste Woche will ich lernen, wie ich damit Briefe an die Krankenkasse schreiben kann.“
Die nächste Welle
Während ich meine Recherche für diesen Artikel abschließe, kündigt sich bereits die nächste Entwicklung an. Meta, der Konzern hinter Facebook und Instagram, plant die Veröffentlichung einer eigenständigen KI-App, die direkt mit ChatGPT konkurrieren soll. Bis Ende des Jahres, so Konzernchef Mark Zuckerberg, soll Meta AI eine Milliarde Nutzer erreichen.
Was bedeutet diese zunehmende Verbreitung von KI-Assistenten für unsere Region? Für unsere Arbeitsplätze? Für unsere Art zu kommunizieren, zu lernen, zu leben?
„Die Frage ist nicht, ob KI wie ChatGPT unser Leben verändern wird,“ sagt Prof. Dr. Claudia Wiesner vom Innovation Campus Heilbronn, als wir uns zum Abschlussinterview treffen. „Die Frage ist, wie wir diese Veränderung gestalten wollen. Technologie determiniert nicht unser Schicksal – wir entscheiden als Gesellschaft, wie wir sie einsetzen.“
Die Professorin für Digitale Transformation sieht in der Region Heilbronn-Franken einen idealen Testfall: „Wir haben hier eine einzigartige Mischung aus traditionellen Industrien, innovativen Startups, Bildungseinrichtungen und einer engagierten Bürgerschaft. Wenn es uns gelingt, ChatGPT und ähnliche Technologien so zu integrieren, dass sie Menschen befähigen statt zu ersetzen, könnte unsere Region zum Vorbild werden.“
Der Mensch im Mittelpunkt
Als ich spätabends in meinem Co-Living-Space in der Heilbronner Bahnhofsvorstadt an diesem Artikel arbeite, öffne ich – fast reflexartig – ChatGPT und bitte um Feedback zu meinem Entwurf. Die Antwort kommt prompt, mit konkreten Vorschlägen zur Struktur und Formulierung. Ich lese sie, implementiere einige Ideen, verwerfe andere.
In diesem Moment wird mir bewusst, wie selbstverständlich die Zusammenarbeit mit dieser künstlichen Intelligenz bereits geworden ist. Nicht als Ersatz für menschliches Denken, sondern als Ergänzung, als Sparringspartner, als Werkzeug.
Stefan Meier, der Buchhalter vom Anfang meiner Geschichte, hat es treffend formuliert: „ChatGPT ist wie ein Taschenrechner für Sprache und Gedanken. Niemand würde behaupten, dass ein Taschenrechner das mathematische Verständnis ersetzt. Aber er befreit uns von mühsamen Berechnungen, damit wir uns auf das Wesentliche konzentrieren können.“
Während ich durch die nächtlichen Straßen Heilbronns nach Hause spaziere, denke ich über die Geschichten nach, die ich gehört habe. Geschichten von Menschen, deren Arbeit sich verändert, deren Alltag sich wandelt, deren Zukunft ungewiss erscheint. Aber auch Geschichten von Menschen, die in der Technologie Chancen sehen, die experimentieren, die lernen.
ChatGPT mag eine künstliche Intelligenz sein – intelligent, leistungsfähig, beeindruckend. Aber die wirkliche Intelligenz liegt in der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit diesem Werkzeug umgehen. Wie wir es nutzen, um uns zu verbinden statt zu trennen. Wie wir es einsetzen, um zu befähigen statt zu ersetzen. Wie wir damit umgehen, um zu schaffen statt zu zerstören.
Die Geschichte von ChatGPT ist letztlich keine Geschichte über Algorithmen und neuronale Netze. Es ist eine Geschichte über uns. Über unsere Hoffnungen und Ängste, unsere Kreativität und Anpassungsfähigkeit, unsere Menschlichkeit in einer zunehmend digitalen Welt.
Und diese Geschichte schreiben wir – in Heilbronn und überall – jeden Tag selbst. Zeile für Zeile, Entscheidung für Entscheidung, Mensch für Mensch.
Miroslav Kovač ist Co-Ressortleiter für Lokales und digitale Innovation bei HEILBRONN.BETA. Er hostet den Podcast „Innovation City“ und das tägliche Vlog „HeilbronnDigital“. Seine multimediale Berichterstattung über Technologie und Gesellschaft können Sie auch auf TikTok unter @miro_explains und auf YouTube unter „LocalNewsRevolution“ verfolgen.