Wertewandel in der Arbeitswelt: Eine ethische Betrachtung des Generationenkonflikts in der deutschen Politik

Dr. Barbara Waldmann, Resort Techethik und Gesellschaft

In einer Zeit, in der Friedrich Merz als neuer Bundeskanzler die „Wirtschaftswende“ ausruft und gleichzeitig die Generation Z mit eigenen Vorstellungen von Arbeit und Leben in den Arbeitsmarkt drängt, stehen wir vor einer fundamentalen gesellschaftlichen Weichenstellung. Sein viel zitierter Satz „Mit einer Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand nicht halten“ verdichtet einen Wertekonflikt, der weit über tagespolitische Debatten hinausreicht und uns zur philosophischen Reflexion einlädt: Was verstehen wir eigentlich unter „Wohlstand“ im 21. Jahrhundert?

Die Neuverhandlung des Wohlstandsbegriffs

Der traditionelle Wohlstandsbegriff, der primär auf materiellem Wachstum und Bruttoinlandsprodukt basiert, wird von der jüngeren Generation zunehmend hinterfragt. Hier offenbart sich ein Spannungsfeld zwischen quantitativen und qualitativen Wohlstandskonzepten, das der Philosoph Martha Nussbaum mit ihrem „Capabilities Approach“ treffend beschreibt: Wohlstand bemisst sich nicht allein an materiellen Gütern, sondern an den tatsächlichen Verwirklichungschancen eines guten Lebens.

Die Generation Z, die laut Shell-Studie 2024 sowohl sichere Arbeitsplätze (über 90%) als auch ausreichend Freizeit neben dem Beruf wertschätzt, artikuliert damit keinen Widerspruch, sondern eine Synthese: Die Frage ist nicht „Arbeit oder Leben?“, sondern „Wie kann Arbeit sinnstiftender Teil eines erfüllten Lebens sein?“

Der ethische Kern der Debatte

Wenn Merz betont, „Arbeit ist nicht nur eine Unterbrechung der Freizeit, sondern ein Teil der Lebenserfüllung“, berührt er einen wichtigen Punkt, den bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik herausarbeitete: Eudaimonia, das gute Leben, entsteht durch sinnvolle Tätigkeit. Doch die entscheidende ethische Frage lautet: Wer definiert, was „sinnvoll“ ist, und unter welchen Bedingungen kann Arbeit tatsächlich zur Lebenserfüllung beitragen?

Die Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung widerlegen das Vorurteil der „faulen Jugend“ eindrucksvoll: „Die jungen Leute sind fleißig wie lange nicht mehr.“ Der vermeintliche Generationenkonflikt entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Aushandlungsprozess unterschiedlicher Wertehierarchien, nicht als Frage des Fleißes.

Die ethische Verantwortung der Politik

Eine Regierung unter Merz steht vor der ethischen Herausforderung, den gesellschaftlichen Wohlstand neu zu definieren und dabei verschiedene Generationenperspektiven zu integrieren. Die „Aktivrente“ mit 2000 Euro Freibetrag für Arbeit nach 67 signalisiert Wertschätzung für die ältere Generation. Doch wo bleiben vergleichbare Angebote für die Jüngeren?

Die hohen Zustimmungswerte für politische Ränder bei den 18-24-Jährigen (26% Linke, 21% AfD) sollten als Warnsignal verstanden werden. Eine Politik, die den Wohlstandsbegriff nicht neu verhandelt und die Bedürfnisse der jungen Generation nach bezahlbarem Wohnraum, Klimaschutz und einer Balance zwischen Arbeit und Leben ignoriert, riskiert eine tiefgreifende gesellschaftliche Spaltung.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Was wir brauchen, ist kein einseitiges Festhalten an alten Wohlstandsmodellen oder eine unreflektierte Übernahme neuer Arbeitskonzepte, sondern einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Stärken verschiedener Generationen verbindet. Die philosophische Tradition des Kommunitarismus erinnert uns daran, dass Gemeinwohl mehr ist als die Summe individueller Interessen.

Die Debatte um Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance ist im Kern eine Wertedebatte: Geht es um die Maximierung wirtschaftlicher Kennzahlen oder um die Optimierung menschlichen Wohlbefindens? Um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten, müssen wir beide Aspekte in Balance bringen.

Fazit: Der Weg zu einem inklusiven Wohlstandsbegriff

Die philosophische Ethik lehrt uns, dass wahre Weisheit in der Integration scheinbarer Gegensätze liegt. Eine zukunftsfähige deutsche Politik muss den Wohlstandsbegriff erweitern: Wirtschaftliche Prosperität und persönliche Erfüllung, Arbeitsethik und Lebensqualität, Tradition und Innovation sind keine Gegensätze, sondern komplementäre Elemente eines guten Lebens.

Friedrich Merz‘ Herausforderung wird es sein, nicht nur die Wirtschaft zu wenden, sondern auch die Brücke zwischen den Generationen zu bauen. Denn echter Wohlstand im 21. Jahrhundert bemisst sich nicht allein an Wachstumsraten, sondern an der Fähigkeit einer Gesellschaft, allen Mitgliedern ein würdevolles, sinnerfülltes Leben zu ermöglichen – unabhängig davon, ob sie der Boomer-Generation oder der Gen Z angehören.

Wie Immanuel Kant uns mahnt: Der Mensch darf niemals nur Mittel zum Zweck sein – auch nicht zum Zweck wirtschaftlichen Wachstums. Eine ethisch reflektierte Politik muss den Menschen und seine Entfaltungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellen. Nur so kann Deutschland den Wohlstand nicht nur halten, sondern auf eine neue, zukunftsfähige Grundlage stellen.

Quellen

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